29. Juni 2013

NÄCHSTE STATION, GREENWICH VILLAGE

Paul Mazursky  (USA, 1976)
Mazurksy gehörte zwar auch zum New Hollywood und dann wieder doch nicht, oder wurde einfach viel weniger wahrgenommen als Scorsese, Penn, Schlesinger, Friedkin, und wie sie alle heißen. Dabei ist sein Greenwich Village-Film doch wirklich schön geraten und kann sich ohne Scham zwischen den Werken seiner Kollegen einreihen. Später gab es von ihm auch noch den wirklich guten "Der Sturm" mit John Cassavetes und Gena Rowlands; alleine diese Namen genügen schon, um als Regisseur beachtet zu werden.
Zurück zum Thema: Der junge Larry (Lenny Baker) wird zunächst mit gepacktem Koffer, in der engen Wohnung seiner Eltern gezeigt und man versteht ihn dann auch gleich, warum er diesen Ort schleunigst verlassen will, wenn uns der Regisseur in den ersten Filmminuten die Verhältnisse offenlegt. Larry steckt tief in den Fängen seiner Übermutter (Shelley Winters, ausgegraben und auf Vordermann gebracht) der Typ Frau, die sich überall einmischt, die immer das beste für ihren Sohn will, ihn aber mit ihrer übertriebenen Fürsorge und krankhafter Kontrolle völlig erdrückt. Larry geht also weg, der Vater steht bloß stumm und verschüchtert im Schatten seiner Ehefrau und wünscht seinem Sohn alles Beste.
Für den Jungen geht es nach Greenwich Village, wo das Leben pulsiert und wo das Herz in der kreativen Luft wieder zu schlagen beginnt. Larry träumt vom Schauspielern, fügt sich sofort in die New Yorker Bohème ein, geht zum Schauspielunterricht und lernt was Leben und Lieben heißt.
Das frühere Leben holt ihn aber immer wieder ein, so bald seine Eltern aus Brooklyn angereist kommen und er sich in amüsanten Situationen mit seiner tonangebenden Mutter herumplagen muss.
Mazursky geht es aber nicht nur um Generationskonflikte und Ödipus-Komplexe; er zeichnen vor allem ein beängstigendes Porträt der jungen, wilden und träumenden Leute, die sich als Künstler fühlen, auch so zu leben versuchen, aber oft daran scheitern, weil sie sich in Posen schmeißen und ihre Probleme und Selbstzweifel hinter Fassaden aus Phrasen und Künstler-Attitüden verstecken. Manche haben Glück, wie Larry, und werden zu Stars, andere begehen Selbstmord, oder verkriechen sich unter der Bettdecke.
In diesem Film geschieht das aber immer noch mit viel Selbstironie und genügend Humor, denn Larrys ewiger Zynismus belächelt stets diese Welt, oder diese selbstgewählte Lebensweise, die man nehmen muss wie sie nun mal ist, und man kann nur schmunzelnd und mit zugekniffenem Auge gegen sie ankämpfen. Albernheit soll aber auch eine amerikanische Krankheit sein, wie es Larrys Schauspiellehrer kommentiert, um seinem Schüler den Unfug aus dem Leib zu prügeln. Das Gleichgewicht zu finden bleibt die eigentliche Kunst und vielleicht verhilft es Larry am Ende doch zum Ruhm.
Auf seinen Wegen, die durch Greenwich Village führen, begegnet unser Held übrigens auch dem jungen Jeff Goldblum und ein noch jüngerer Christopher Walken ist auch stets an seiner Seite. Solche prominenten Begegnungen machen den Film noch reizvoller.

27. Juni 2013

FUNNY GAMES U.S.

Micheal Haneke  (USA, Großbritannien, Österreich, 2007)
10 Jahre nach seiner österreichischen Erst-Version drehte Haneke seinen Film noch einmal, als eine Art geschliffene und polierte 1:1-Kopie. Dieses Mal mit internationaler Starbesetzung; man kann es jedoch nicht wirklich als US-Version bezeichnen, wenn alleine schon das Protagonisten Ehe-Paar aus einer Australierin (Noami Watts) und einem Engländer (Tim Roth) besteht, aber das ist auch völlig egal, denn sie machen ihren Job ganz ordentlich und lassen sich von den zwei Jugendlichen und ihrem Regisseur originalgetreu knechten, bis der Angstschweiß, Blut und Erbrochenes aus allen Poren austreten.
Der Film wurde bereits vor Jahren im Wiesbadener Caligari-Kino gesichtet und langweilte beinahe schon an mehreren Stellen, aber vielleicht auch nur, weil die Originalfassung kurz davor schon konsumiert wurde und einfach noch viel zu präsent war.
Die Thematik von "Funny Games", (egal welche Variante), oder das, was Haneke daraus gemacht hat, ist nicht nur die legendäre "harte Kost", wie man diese Redewendung so gerne abnutzt, sondern ein Nerven-Zerrer par excellence, bei dem ohne große Effekthascherei der Zuschauer psychisch herausgefordert wird.
Wiederholen wir ruhig nochmal kurz den Plot: Ann (Watts), George (Roth) und ihr kleiner Sohn geraten hier im eigenen Ferienhaus in die Fängen von zwei Jugendlichen (Michael Pitt und Brady Corbet), die sich zunächst als brave Nachbarsjungen ausgeben, beim Gelangen ins Haus und Zuschließen der Tür jedoch eine andere Seite von sich präsentieren. Ob die Masken nun fallen, oder eher aufgesetzt werden, darf der Zuschauer selbst entscheiden, jedenfalls schaffen es die beiden, die Familie zu überwältigen, gefangen zu halten und einem albtraumhaften Psychoterror auszusetzen. Die Funny Games sind damit eröffnet, es geht nur noch darum, auf welche Art die "Gefangenen" sterben sollen und in welcher Reihenfolge.
Haneke erzählt also exakt das Gleiche und auf die gleiche Art, wie schon zuvor, fädelt bloß einige neue Akzente ein, die eine Neuverfilmung wenigstens halbwegs rechtfertigen. Er lässt Michael Pitt einige Male in die Kamera blicken und den Zuschauer ansprechen, oder eine drastische Gewaltszene wieder zurückspulen und doch anders ausgehen lassen. Der Regisseur spielt deutlich mehr mit uns Zuschauern als damals vor 10 Jahren, doch was nützt all der provozierende Ärger, wenn die österreichische Version in ihrer ungeschliffenen, beinahe semi-dokumentarischen Art doch viel ausdrucksstärker war.
Man fragt sich also: wozu? Ob Haneke genauso wie seine beiden Übeltäter bloß gelangweilt ein lustiges Spiel spielen wollte? Und wo will sich die US-Version positionieren? Immer noch zwischen Gesellschaftskritik und Charakterstudie, oder legt man sie in die Theke zu den anderen unterhaltsamen Horror/Thriller-Schinken? Lassen wir mal am Ende diesen Genre-Zweifel mit den restlichen Fragen stehen.

25. Juni 2013

NAPOLA – ELITE FÜR DEN FÜHRER

Dennis Gansel  (Deutschland, 2004)
Der "neuere" neue Deutsche Film hat vor ein paar Jahren mal wieder gerne die alte Nazi-Zeit aus dem Regal rausgeholt; Julia Jensch kam als Sophie Scholl ins Rampenlicht und Bruno Gans durfte sogar in des Führers Klamotten schlüpfen und im muffigen Bunker auf und ab laufen.
Dagegen gab es irgendwie noch nie etwas filmisches über die Napola. Hat leider nichts mit Spaghetti Napoli zu tun, sondern viel mehr mit der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt, wo gründlich ausgesiebte Jungen eintreten durften und zur Elite für den Führer ausgebildet wurden, wie es der Zusatztitel zum Film schon prophezeit.
Dennis Gansel (den Namen könnte man sich unter Umständen merken) ließ sich für diese fiktive Geschichte von den Erzählungen seines Großvaters inspirieren und plauderte außerdem fleißig mit lebenden Zeitzeugen, die ebenfalls zur Napola dazugehörten. Wie überzeichnet das Produkt letztendlich ausgefallen ist; da könnte man natürlich auf eigene Faust weiter nachforschen, oder es sein lassen und den Film als solide Skizze jenes Phänomens betrachten, die immerhin einen unterhaltsamen Film garantiert.
1942 wird der 17-jährige Friedrich (Max Riemelt) gegen den Willen seines Vaters in eine solche Anstalt aufgenommen, weil ihn ein Napola-Boxlehrer zuvor beim Kampf gesehen und ihm sofort Honig ums Maul schmieren konnte. Der Junge nimmt das Lob als große Chance wahr, lässt sich sofort von nationalsozialistischen Phrasen, den vorgegaukelten, glorreichen Zukunftsaussichten und der vorbildlich organisierten und protzig ausgestatteten Anstalt völlig in den Bann ziehen.
Die Napola-Festung erweist sich jedoch schnell als stahlharte Kämpfer-Schmiede, wo die Schwachen niedergetrampelt und ausgemerzt werden sollen. Welche fatale Zielsetzung und Ideologie dahintersteckt, wird Friedrich erst richtig bewusst, als er den übersensiblen "Schöngeist" Albrecht kennenlernt, der als Sohn eines Gauleiters gezwungenermaßen die gleiche Ausbildung über sich ergehen lassen muss, auch wenn er sich eher mit Schreibfeder als mit der Waffe in der Hand sieht. Was folgt ist die Geschichte dieser aufkommenden Freundschaft und Friedrich bekommt die Funktion eines tragischen "Augenöffners", der sein Umfeld und schließlich auch den Zuschauer wachrütteln soll
Der Traum bekommt also einen herben Beigeschmack und entpuppt sich zunehmend als direkter Weg ins Verderben, bei dem man am Ende weniger als strahlender Held sondern als geschulte, kaltblütige Killer-Maschine herauskommen soll.
Dennis Gansel hat sogar einige symbolträchtige Szenen auf Lager, wenn etwa der despotische Sportlehrer als Beweis seiner Stärke von Friedrich einen Fausthieb in die Magengegend verlangt, sich aber anschließend voll Schmerzen krümmt und eher taumelnd nach Luft ringt als eiserne Stärke beweist. Ein Schlag, der den gesamten Nationalsozialismus blitzartig demaskiert und entblößt.
Das ist auch die einzige Szene, in der die SS-Schergen bestraft oder gerächt werden, denn darum geht es dem Regisseur auch gar nicht. Er zeigt lieber, wie man unter ihnen zerbricht, wie man in ihrer Hand einen sinnlosen Heldentod stirbt, zu einem feigen, verachtungswürdigen Selbstmord getrieben wird, oder den eigenen Traum aufgibt, weil der Weg zum Ziel falsch gar verbrecherisch erscheint.
Kein dummer Film also, wenn doch bloß die Mittel anders wären und Dennis Gansel den Bogen nicht all zu oft überspannen würde, was leider gerne passiert und das Werk in so manch einer dramatischen Szene zwischen jungfräulicher Tv-Film-Tauglichkeit und üppigem Hollywood-Kitsch hin- und hergeschubst wird.

20. Juni 2013

BOLWIESER

Rainer Werner Fassbinder  (Deutschland, 1977)
Bolwieser (wieder mal der große Kurt Raab) ist Bahnhofsvorstand in einer Kleinstadt mitten im bayerischen Nirgendwo, der sich einbildet, er würde mit seiner Frau Hanni (Elisabeth Trissenaar) eine harmonische Ehe führen. Diese schielt aber schon lange nach dem Gastwirt Merkl (Bernhard Helfrich), wovon die ganze Ortschaft weiß und Bolwieser hinterm Rücken auslacht. Als die Gerüchte ihren Lauf nehmen und auch in Bolwiesers Ohren zirkulieren, zeigen Hanni und Merkl die Verleumder an, und selbst Bolwieser schwört einen Meineid, um seine Frau zu schützen. So sehr ist er in die Illusion der glücklichen Ehe vernarrt, ohne zu merken, dass diese heile Welt geschwind und zweifellos zerbröckelt und er seine geliebte Frau schließlich am Friseur Schafftaler (Udo Kier) verliert, selbst immer tiefer fällt und wegen Meineids ins Gefängnis landet.
Mag vielleicht an meiner Fassbinder-Überdosis gelegen haben, dass der Film nicht mehr seine erhoffte Wirkung hinterlassen hat, oder einfach nur am falschen Moment. Dafür kann der Film dann nichts, oder „Bolwieser“ gehört wirklich zu den Filmen, die weil sie auf einem Roman basieren, deutlich weniger Handschrift ihres Regisseurs tragen. „Bolwieser“ ist ja in seiner Inszenierung, Ausstattung und Beleuchtung ein anderes paar Schuhe als Fassbinders sonst erhoffte, ausgekotzte und spartanische Nicht-Ästhetik und man fühlt sich fast schon wie beim jungen Andrzej Wajda, wenn er ein Thema anpackte, das geschichtlich etwas weiter zurücklag und schon gleich als Kostümfilm durchgehen konnte. Was nicht heißt, dass Fassbinder ständig die gleichen Mittel nutzte; sein „Veronika Voss“ ist eine handwerklich-erzählerische Glanzleistung, ebenso „Effi Briest“, der themengerecht ästhetisiert wurde. Oder man muss „Bolwieser“ wirklich in der längeren TV-Fassung sehen.

19. Juni 2013

RIO DAS MORTES

Rainer Werner Fassbinder  (Deutschland, 1970)
Dieser irrsinnige Blödsinn, der aber eigentlich ganz witzig geraten ist, stammt tatsächlich auch von Fassbinder.
Michel (Michael König), Fliesenleger von Beruf und sein schwarzer Freund Günther (Günther Kaufmann) sind im Besitz einer peruanischen Schatzkarte und träumen beide davon, nach Südamerika auszuwandern, um nach den verborgenen Reichtümern zu suchen. Das grundlegende Problem, sind allerdings die fehlenden finanziellen Mittel, um Deutschland überhaupt verlassen zu können. Mit jedem weiteren Versuch, an das nötige und sorgfältig durchgerechnete Geld heranzukommen, scheinen sich die beiden von ihrem Traum immer weiter zu entfernen und selbst die Frauen in diesem Film, vor allem Hanna (Schygulla), schütteln nur noch ratlos den Kopf und würden Michel und Günther am liebsten von ihren Plänen abbringen.
Die naive Vorgehensweise der beiden Freunde führt zu amüsanten Situationen, wenn etwa Michel plötzlich sein Auto verkauft, Günther wegen Sparmaßnahmen auf seine eigene Wohnung verzichtet, oder beide bei Hannas Onkel (der im Außenhandel tätig ist) anklopfen und ihm eine völlig dilettantisch zusammengereimte  Rentabilitätsberechnung zum Baumwollanbau in Peru vorlegen. 
Dass uns Fassbinder in den knappen 90 Minuten keine tropisch-bunten Dschungelabenteuer bieten wird, sondern brav mit seinen Figuren im kargen München bleibt, wo sie bloß fliesenlegend und in der Kneipe sitzend ihren Träumen nachgehen können, ist mehr als sonnenklar.
Als der Regisseur dann überraschenderweise die Figur einer Mäzenin hineinschmuggelt, die ein offenes Ohr für solche Spinnereien hat, sieht es plötzlich doch ganz anders aus und wie aus dem Nichts zaubert uns Fassbinder hier seinen angeblich einzigen Film, mit einem zumindest angedeuteten Happy-End. Es lohnt sich doch zu träumen, überall und jeder Zeit.
Und in einer Kneipenszene tanzen Fassbinder und Schygulla kurz zu „Jailhouse Rock“, während die zwei Möchtegern-Konquistadoren von Freiheit und Leben schwärmen.

DER MANN, DER ZUVIEL WUSSTE

Alfred Hitchcock  (USA, 1956)
Passiert nicht so oft, dass ein Regisseur seinen eigenen Film gleich zweimal dreht; die erste Version dieser halsbrecherischen Kidnapping-Geschichte drehte Hitchcock schon in den 30er-Jahren, ließ damals den kleinen Bengel aber in St. Moritz verschwinden und nicht im staubtrockenen Marokko, wie in dieser neueren Fassung.
Den Inhalt in allen Einzelheiten wieder aufzurollen macht nur wenig Sinn, kennt ja eh fast jeder und genauso weiß auch jeder, wie uns Hitchcock hier wieder mal vorzüglich durch ganze Kontinente, Länder und andere Orte peitscht.
James Stewart und Doris Day spielen hier das verzweifelte Ehepaar auf der Suche nach ihrem entführten Sohn. Schlagfertig und besserwisserisch wie wir den kleinen Sohnemann kennenlernen durften, braucht man sich eh nicht all zu viele Sorgen um ihn zu machen; da tun einem die Entführer beinahe schon mehr leid.
Stewart erfährt jedenfalls, dass ein wichtiger Staatsmann in London ermordet werden soll, weil ihm ein französischer Geheimagent diese Information kurz vor seinem Tod zuflüsterte, doch dem fürsorglichen Vater sind die Hände gebunden und er darf nichts ausplaudern, wenn er seinen Sohn lebend wiederbekommen möchte.
Das ist wieder mal eine jener Situationen, in denen einem die Polizei kaum noch weiterhelfen kann und wo man versuchen muss, auf eigene Faust zu handeln. Mama und Papa werden zu Superhelden, wobei Mama natürlich subtiler und durchdachter vorgeht, während sich Stewart durch seine überstürzte Art öfters Mal eine Beule holt. Aber über seine Figur darf man natürlich kaum spotten, sondern vor Ehrfurcht erzittern. Schließlich ist er der Mann, der  nicht nur zu viel weiß, sondern auch noch ohne große Mühen nach einem Knockout in der langgesuchten Abrose Chapel, mit Hilfe des Glockenseils bis zum Kirchturm hochklettern kann.
Im ganzen Film wimmelt es wieder mal vor übertriebenen Rückprojektionen und Klamauk-Sequenzen, wo sich Stewart mehrmals mit den Auslands-Bräuchen vertraut machen muss. Aber das dient ja alles dem Ausgeliefertsein in der Fremde, damit es das Ehepaar als Ausländer zusätzlich schwer hat.
Zeit genug bleibt jedenfalls immer noch, um Doris Day „Que Sera, Sera“ singen zu lassen und den durch diesen Film bekannt gewordenen Gassenhauer auch noch am Ende zu einem entscheidenden dramaturgischen Höhepunkt hochzuhieven.
Davor gibt es aber natürlich noch die Klassiker-Szene in höchster Vollendung: Der Pistolenschuss beim Konzert in der Royal Albert Hall während des Beckenschlags. Eine Szene, die Hitchcock dermaßen dehnt, dass man an Stelle von Doris Day fast schon lieber selbst losschreien möchte, damit das Drama endlich zu Ende geht, ob der Staatsmann dabei nun draufgeht oder nicht.
Ein Hitchcock, bei dem man sich jedes Mal wieder über so viele Sachen ärgern kann und sich dennoch freut, wenn man ihn nach seinen Macken und Kanten absuchen darf, wenn er sich mal wieder ins Fernsehprogramm verirrt hat.

18. Juni 2013

SATANSBRATEN

Rainer Werner Fassbinder  (Deutschland, 1976)
Fassbinders einzige Komödie, wenn man sie überhaupt in dieser Genre-Ecke abstellen möchte, ist tatsächlich ein wahrhafter Satansbraten, der da unter hoher Gradzahl im überhitzenden Ofen schmort. Das ist nicht nur witzig, sondern vor allem teuflisch, weil es gerne und oft ins Geschmacklose, Unappetitliche, Vulgäre, vollkommen Überzeichnete und Absurde überschwappt. 
Kurt Raab (facettenreich und egozentrisch wie sonst kaum!) brilliert in diesem diabolischen Albtraum als Dichter Walter Kranz, der ganz tief in einem kreativen Loch kauert und dessen Schaffenskrise von Schulden, einer lärmenden und unbefriedigten Ehefrau (Helen Vita) und einem schwachsinnigen Bruder (Volker Spengler) vervollständigt wird.
Kranz ermordet seine reiche Geliebte und die dichterische Kreativität blüht allmählich wieder auf, bis er der Wahnvorstellung verfällt, er wäre Stefan George, der deutsche Lyriker des 19. Jahrhunderts, mit dem er sich so weit identifiziert, dass er sich dessen Anzug maßschneidern lässt und bei Kerzenlicht vor einem bezahlten Anhängerkreis seine Gedichte vorliest.
Margit Carstensen ist auch dabei, als entzückte Verehrerin, sowie Brigitte Mira mit weißem Haar, als Walter Kranzs Mutter, in einer kleinen Szene, in der es lediglich darum geht, die armen Eltern finanziell (und menschlich) auszunehmen.
Kranz verfährt mit allem und allen irgendwann vollkommen schonungslos und gefühlskalt, bis er völlig größenwahnsinnig wird und faschistische Ideen in ihm zu keimen beginnen. Somit kann einer Satire auf den selbstverliebten Überkünstler und selbstsüchtigen Schöpfer nichts mehr im Wege stehen.
Fassbinder erzählt mit einem draufgängerischen Tempo, verschont nichts und niemanden und entwirft dabei eine überstilisierte Welt, in der man kein alltägliches, menschliches Verhalten erwarten kann. Damit hätte er vielleicht den Grundstein für eine neue Art der schwarzen Komödie/Satire legen können, für die er mit Sicherheit genug Talent aufbringen könnte, um sie in weiteren Filmen zu perfektionieren.

17. Juni 2013

INFAM

William Wyler (USA, 1961)
William Wylers altes Lehrstück über den selbstsüchtigen Menschen, der zum eigenen Vorteil lügt, um sich selbst reinzuwaschen, völlig unbekümmert, wenn andere plötzlich darunter leiden müssen und eine erfundene Geschichte wie ein Lauffeuer in alle Richtungen sprießt, Verwirrung stiftet und große Opfer fordert.
Da es sich bei der Schuldigen um ein kleines Mädchen handelt, denkt man an diesen Film auch gerne zurück, wenn man in jüngster Zeit Vinterbergs „Die Jagd“ sehen durfte, der gewisse Parallelen zu Wylers Klassiker aufweist.
Wyler war eh ein großer Erzähler, dessen Filme den eigenen Schöpfer haushoch überragten; ein Regisseur der seltsamerweise immer im Schatten seiner eigenen Arbeit stand und dabei so viele unterschiedliche Klassiker schuf.
In „Infam“ geht es um eine Privatschule im konservativen Neuengland, die von Audrey Hepburn und Shirley MacLaine geleitet wird, wo erstmal alles rosig und harmonisch anfängt, so dass man sich fragt, was da außer einer sommerlichen Liebelei oder ein paar Gören, die ihre Hausaufgaben nicht machen wollen, überhaupt dieses friedsame Gleichgewicht stören könnte. Aber wie immer bei einem Wyler-Film, lohnt es sich abzuwarten und auch wenn man ihn schon zum siebten oder achten Mal sieht, kommt schließlich irgendwann die Figur der kleinen Mary (Karen Balkin) zum Einsatz, die zum Selbstschutz eine perfide Lüge erfindet, die beiden Lehrerinnen hätten zusammen ein Verhältnis.
Der Film ist von 1961 und kann nur andeuten, schweift aber deswegen auch in keine unnötigen, vulgären Nischen ab, sondern geht mit allem sehr subtil um. Tränen fließen bei den zwei Jungen Frauen dennoch mehr als genug, weil die kleine Mary standhaft bei ihrer Version bleibt und alle Erwachsenen an der Nase herumführen kann. Wenn man ihr Gesicht so aus der Nähe betrachtet, bekommt man selbst genügend Angst und glaubt, sie hätte den Teufel mit Haut und Haaren verschlungen, so gemeingefährlich wie sie einen mit ihrem Blick durchbohrt.
Der Skandal im Ort nimmt seinen Lauf, Hepburn und MacLaine sitzen schließlich einsam, verlassen und resigniert in ihrem Haus und der Zuschauer entwickelt tatsächlich so etwas wie eine grollende Abscheu gegenüber einem kleinen Kind. Das bringt uns geradewegs zu einem ganz anderen Genre, in dem Kinder dämonisiert wurden: Damien oder Regan hier zu nennen, bedeutet, sich ganz weit aus dem Fenster zu lehnen. Man hat sie trotzdem kurzzeitig vor Augen, auch wenn Mary aus „Infam“ zweifellos Konflikte von zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Größe auslöst und uns keinen Spuk verabreichen möchte.
Die Schlussszene darf man kaum ausplaudern, es sei aber gesagt, dass Audrey Hepburn hier in den letzten Minuten vielleicht ihre einprägsamste Leistung bringt, die beim mehrfachen Wiedersehen nichts an Wirkung einbüßt.

16. Juni 2013

MUTTER KÜSTERS FAHRT ZUM HIMMEL

Rainer Werner Fassbinder  (Deutschland, 1975)
Den allmählichen wirtschaftlichen Aufstieg des Nachkriegsdeutschlands thematisierte Fassbinder in seinem Maria Braun-Film. Was danach aus Deutschland wurde, zu welchen komplexen Verzweigungen, menschlichen Schicksalen und persönlichen Tragödien es hinführte und mit welchen (politischen) Mitteln versucht wurde, diesen Problemen entgegenzutreten, das erzählt uns die Geschichte der Mutter Küsters vielleicht am besten.
Brigitte Mira darf hier Mutter Küsters spielen, denn wer sonst eignet sich so gut aus Fassbinders Ensemble für die Rolle einer älteren Frau aus einfachen Verhältnissen, die nur in Ruhe gelassen werden will und ihr eigenes, kleines, friedliches Leben leben möchte.
Sie sitzt zu Haue am Küchentisch, schraubt Steckdosen zusammen - ein Job, bei dem auch öfters ihr erwachsener Sohn (Armin Meier) mithilft -, als sie eines Abends erfährt, dass ihr Mann seinen Vorgesetzten und schließlich sich selbst umgebracht hat, weil mit Massenentlassungen in der Firma gedroht wurde.
Fassbinder zögert nicht lange herum und versetzt uns damit sofort den ersten Schlag und wir können nur noch zusehen, wie die gebrochene Mutter Küsters, immer deutlicher in die Öffentlichkeit tritt, zuerst gegen ihren Willen, als ihr die Presse die Wohnung einrennt, und schließlich mit Vorsatz, als sie merkt, wie ihr ein Reporter (Gottfried John) anfangs sein Vertrauen vorschwindelt, nur um einen verleumderischen Artikel über ihrem Ehemann zu verfassen.
Hilflos und einsam wie sie ist, wendet sie sich an das Kommunisten-Pärchen Karl (Karlheinz Böhm) und Marianne (Margit Carstensen), die die alte Frau mit offenen Armen empfangen, weil ihr verstorbenen Ehemann schließlich ein vorbildliches Zeichen für die Arbeiterbewegung gesetzt hat, auch wenn seine Mittel drastischer Art waren.
Die naive Mutter Küsters tritt sogar der kommunistischen Partei bei und rechnet damit, ihren Mann endlich von den publizierten Lügengeschichten reinwaschen zu können. Als sie die eigennützigen Interessen der Partei erkennt, wendet sie sich schließlich, völlig ahnungslos was sie da erwartet, an einen Anarchisten, der einen viel radikaleren Lösungsweg geht, als es ihr lieb ist.
Den endgültigen, katastrophalen Ausklang erzählt Fassbinder in eingeblendeten Zwischentiteln und stellt die selbstsüchtige Zuwendung der Partei und die anarchistische, blutfordernde Methode an den Pranger.
Letztendlich animiert er uns dazu, einen anderen Weg einzuschlagen, um einen persönlichen Frieden zu schließen und bietet uns sogar ein alternatives Ende (für die US-Version vorgesehen), bei dessen optimistischer Anmutung Mutter Küsters Bemühungen zwar ein völlig anderes, aber doch ein zufriedenstellendes Ziel erreicht haben.
Und Brigitte Mira... wie immer ganz groß. Eine Identifikationsfigur mit Küchenschürze, die aus allen restlichen, prominent besetzten Nebencharakteren deutlich heraussticht. Vielleicht ist das auch eher „ihr“ Film als „Angst essen Seele auf“.

GOTO, INSEL DER LIEBE

Walerian Borowczyk  (Frankreich, 1969)
Für reichlich Verwirrung sorgt Borowczyk mit seinem Erstlingswerk, das er auf französischem Boden Ende der 60er Jahre produzieren durfte. Davor machte sich der gebürtige Pole bereits in seiner Heimat einen Namen als begnadeter Trickfilmer.
Die Neigung zur absurd-spielerischen Bildsprache blieb erhalten und so ist sein „Goto“ mit Sicherheit sein Bindestück zwischen den beiden Medien und vielleicht auch nicht mehr als ein Test-Territorium, wo er seine ersten Gehversuche im Realfilm wagen konnte.
Goto ist eine Insel mitten im Nirgendwo, wo seit dem 19. Jahrhundert die Zeit stehengeblieben zu sein scheint und die gleichnamigen Herrscher, Goto I-III regieren bzw. regiert haben, was man bereits den Schulkindern vorbildlich eintrichtern will, weil sie im Klassenraum alle drei Gotos auf einem einzigen Portrait bewundern dürfen. Je nach Blickwinkel ändert sich nämlich das Bild; eine optische Spielerei, die einen kontinuierlichen Platzwechsel der Schüler fordert.
So fängt der Film mit einer starken, symbolischen Szene an, verläuft sich dann aber zunehmend in einer grotesk-phantastischen Abfolge von Szenen und Bildern. Der Augenmerk liegt dann auf der Figur des Gronzo, der auf die Frau des Goto III ein Auge geworfen hat, wie er dann zum Fliegentöter, Schuhputzer und Hundehüter wird und schließlich den sadistischen Goto umbringt.
Diese bizarre Schwarzweiß-Welt aus Felsen, Wasser und archaischem Schmutz ist zwar schön anzusehen und sie schwebt atmosphärisch viel mehr im osteuropäischen Film als in Frankreichs gepflegt schnittiger Filmästhetik, doch freut man sich, dass Borowczyk diese verschrobene Kunstkino-Ecke, doch noch für seine späteren so herrlich skandalösen Filme wie „Die unmoralischen Geschichten“ oder „Das Biest“ und deren zugänglichere Lesbarkeit, verlassen konnte.

15. Juni 2013

ANGST VOR DER ANGST

Rainer Werner Fassbinder  (Deutschland, 1975)
Von Fassbinder kann man nie genug bekommen. Vor allem: sieht man einen, kommen einem schon die nächsten fünf entgegen, die man noch nie gesehen hat und so konnte ich kürzlich mit „Angst vor der Angst“ den nächsten Fassbinder-Schub eröffnen.
Nach „Martha“ ist das vor allem wieder ein guter Margit Carstensen-Film, hier als eine psychisch völlig ausgemerzte Margot, die im Grunde ein kaum beklagenswertes Leben mit ihrem Ehemann und ihrer Tochter führt, die aber dennoch von dem festgefahrenen, bürgerlichen Dasein gelangweilt und überfordert ist.
Das äußert sich in ihren immer wieder auftauchenden Halluzinationen, mit deren tricktechnischer Seite uns Fassbinder vielleicht anfangs zu sehr auf die Nerven geht, die aber im weiteren Verlauf nur noch das Rückgrat der Geschichte bilden.
Margot träumt also von einem Ausbruch aus den Fängen des Alltags und flüchtet sich in ihr Inneres, ertränkt den Kummer im Alkohol und kapselt sich mit Kopfhörern und Musik von allem ab, was unangenehm ist und keine Lösung in Aussicht hat.
Die neugierige Mutter und Schwester wohnen eine Etage höher und nerven das junge Ehepaar mit ständigen Kontroll-Besuchen. Der Ehemann, zwar mitfühlend aber doch hilflos, möchte von keinem gestört werden, so bald er nach Hause kommt und mit dem Rücken zu seiner unglücklichen Frau sitzt, während er für seine bevorstehenden Prüfungen lernt.
Einziger Ausweg ist der Apotheker im Haus nebenan, der schon immer in Margot vernarrt war und mit dem sie eine aussichtslose Affäre startet. Auf dem Weg vom Kindergarten oder vom Arzt trifft sie öfters noch einen sehr unheimlichen Kurt Raab, der sein vampirhaftes Erscheinen in keinem Film vollständig ablegen kann. Hier als Herr Bauer, der sich als Margots penetranter Seelenverwandter ausgibt, weil er an ähnlicher Geisteserkrankung leidet.
Ein erschütterndes Portrait einer hochsensiblen Frau und Mutter, die in ihrem erstarrten Alltag nur noch auf die Augenblicke der Angstzustände wartet, bei denen sie die dazwischenliegenden Zeitabschnitte als lähmende Qual empfindet.

FRANTIC

Roman Polanski  (USA, Frankreich, 1988)
Diese ganzen obligatorischen Hitchcock-Verbeugungen, vor denen kaum ein Filmemacher zurückschrecken kann, müsste man eigentlich schon zu einem Subgenre ernennen. Polanski hatte seinen Beitrag damals Ende der 80er mit "Frantic" geleistet, wo er sich sogar schon mit dem Filmtitel vorzüglich in die typischen 1-Wort-Titel von Hitchcock einreiht. Der Titel hält ja auch was er verspricht, weil Harrison hier kräftig durch Paris durchgeprügelt wird und es bleibt ja auch durchwegs spannend, was einer solchen Verbeugung Genre-gerecht zu Gute kommt.
Ford spielt hier einen amerikanischen Arzt, der zusammen mit seiner Frau zum Kongress nach Paris fährt. Und Polanski wartet gar nicht lange, bietet nicht mal Zeit und Möglichkeit, die Koffer auszupacken, weil es bereits mit dem Gepäck Probleme gibt und das Ehepaar sofort vor einem falschen Koffer dasteht, der scheinbar am Flughafen vertauscht wurde. Selbst eine Duschszene darf nicht fehlen, jedoch nicht als Kulisse, um jemanden darunter kaltblütig zu ermorden, sondern um die eigentliche Handlung im Off geschehen zu lassen, während das Wasser aus dem Duschkopf plätschert. Fords Ehefrau verschwindet nämlich währenddessen spurlos und wird im weiteren Verlauf der Geschichte von ihrem Gatten verzweifelt gesucht, der hilflos durch das ihm völlig fremde Paris umherirrt. Anfangs sucht er Hilfe bei der französischen Polizei und der amerikanischen Botschaft, merkt aber schließlich, dass er bei der Suche nach seiner Frau viel rascher ans Ziel gelangen kann, wenn er allein auf sich gestellt ist. Vor allem als beim Öffnen des fremden Koffers verschiedene Gegenstände ans Tageslicht kommen, die ihn an immer unbekanntere und gefährlichere Ort bringen. Am Ende geht es um die Beschaffung eines Bauteils für nukleare Sprengsätze, gegen den die Entführer Harrison Fords Ehefrau austauschen wollen.
Weder ein Polanski- noch ein Hitchcock-Film kann jedoch glaubhaft und fesselnd genug seine Geschichte erzählen, wenn man die weibliche Figur sofort am Anfang verschwinden lässt. Als Ersatz gibt es aber hier die von Polanski mal wieder entdeckte und sogar kurz danach zur Frau genommene Emmanuelle Seigner. Hier als Schmugglerin und so etwas wie eine auf den Kopf gestellte Femme Fatale, aber vor allem das übertriebene, stets knapp bekleidete Objekt der Begierde, nach dem sich Zuschauer und vor allem Harrison Ford die Finger lecken soll.
Viel mehr ist da auch nicht, außer dass der Film von Jahr zu Jahr altert und die Eigenwilligkeit der 80er Jahre immer deutlicher zum Vorschein kommt, so dass man sich fragt, ob er durch den Retrolook immer cooler, oder eher immer peinlicher wirkt. Polanski übertreibt es auch gerne mit der unfreiwilligen Komik und man kommt wieder ins Grübeln, ob das wohl an ihm selbst liegt, an Harrison Fords Klamaukigkeit oder an dem Versuch, sich erneut an Hitchcock klammern zu wollen, der ja auch gerne dick aufgetragen hat, um dem Zuschauer mit dem Unterhaltungsfaktor des Genres in comichaftem Überschwang entgegenzuspringen.

4. Juni 2013

DIE JAGD

Thomas Vinterberg  (Dänemark, 2012)
Bevor die Erinnerungen verblassen, (auch wenn das im Falle dieses Filmes nur sehr schwer fällt), sollte man auch dieses Werk unbedingt schriftlich verewigen, weil es zu den besten Kinogängen der letzten Monate dazugehört. Um so erfreulicher war es, sich so kurzfristig für einen Kinobesuch entschieden zu haben, um nach diesem fulminanten Erlebnis gleich festzustellen, dass dieser Film die Kinosäle langsam aber sicher wieder verlässt.
Thomas Vinterberg ist vor allem für "Das Fest" bekannt, seinen Beitrag zur dänischen Dogma-Bewegung. Das ist alles aber schon ein paar Jährchen her und Dogma als Konzept mittlerweile ein alter Schuh. Lars von Trier ist ja auch längst gereift und man lässt dann gerne solche studentischen Experimente hinter sich, auch wenn die Bewegung natürlich gute Sachen hervorgebracht hat. Vinterberg ist nicht Lars von Trier, wozu auch, packt andere Themen an und verpackt sie auch anders.
In "Die Jagd" geht es um den Kindergärtner Lucas (Mads Mikkelsen) der mittlerweile alleinstehend in einer Kleinstadt lebt und sich mit seiner Ex-Frau nur noch am Telefon darüber streitet, wer wann den Sohn haben soll. Lucas ist außerdem Mitglied in einem Jagdverein; eine Art soziales Auffangbecken für potentiell gelangweilte, männliche Einwohner, wo seit Generationen ein brüderlicher Zusammenhalt gewährleistet ist.
Im Kindergarten, in dem Lucas arbeitet, ist unter anderem die kleine Klara, Tochter von Lucas' bestem Freundes Theo, die in ihren Kindergärtner ein bisschen verliebt ist. Da sie mit seiner Zurückweisung nicht umgehen kann, erfindet sie kurzerhand eine Geschichte, die darauf hinausläuft, er hätte sie sexuell belästigt. Diese Lüge gelangt zuallererst in das Ohr der Kindergartenleiterin und schlängelt sich durch den ganzen Ort, bis schließlich jeder, (vom Metzger nebenan bis hin zu zu Lucas' besten Freunden), davon überzeugt ist, er hätte tatsächlich der kleinen Klara etwas angetan.
Das führt geradewegs zur kompletten Isolation des beschuldigten Kindergärtners, der seinen Job verliert und von dem sich beinahe alle seine Nächsten abwenden. Der einzige Lichtblick ist Lucas' Sohn Marcus, der gegen den Willen seiner Mutter den verzweifelten Vater besucht und sich sofort auf seine Seite stellt.
Lucas' Lage verschlimmert sich jedoch zunehmend, als der tonnenschwere psychischen Druck, der auf seinen Schulter lastet, ihn schließlich durch körperliche Angriffe in die Knie zwingt. Plötzlich werden große Steine durchs Fenster in sein Haus geschmissen, er bekommt bei Freunden und Einkaufsläden Hausverbot und wird überall mit brutaler Gewalt rausgeschmissen, bis er irgendwann nur noch blutend und einem Obdachlosen gleich, durch die Gegend irrt.
Womit uns Vinterbergs Film am meisten provoziert und ärgert: das kleine Mädchen hat längst alles ihren Mitmenschen gebeichtet, denn ihre kindliche Unreife hält sie nicht davon ab, einzusehen was sie angerichtet hat. Dies führt zur eigentlichen Problematik dieses Filmes, nämlich dem Blickpunkt, dass jeder hört, was er hören will und die Einwohner dem Kind nur die anfängliche Lüge als Wahrheit abkaufen und vor jeglichen Entschuldigung lieber die Scheuklappen aufsetzen, weil eine festgefahrene Eigeninterpretation, die man nicht hinterfragen will, am bequemsten ist.
Vinterberg porträtiert hier den Gruppenwahn einer von Angst gezeichneten Gesellschaft, die sich im Kollektiv auf ein einziges, schwächeres Opfer stürzt, es ausgliedern möchte, bzw. am liebsten vollständig beseitige will. Die "Jagd" geht selbst nach einer scheinbaren, positiven Kehrtwende weiter und reicht über die Filmlänge hinaus, was durch die exzellente Schlussszene nochmal abgerundet wird.
Und man kann den Film wieder zu Tode interpretieren, die Menschheitsgeschichte im weiteren Sinne nach unzähligen Sündenböcken absuchen, oder sich an Einzelschicksalen festkrallen und dem Film auf dieser Ebene Zeitlosigkeit zuschreiben, was er formal und vor allem inhaltlich durchaus verdient hat.

3. Juni 2013

Fellinis Drehbücher

Wenn man Fellini gerne schaut, sollte man ihn auch lesen, bzw. die Möglichkeit nutzen, dass die meisten seiner Drehbücher vor längerer Zeit bei Diogenes erschienen sind. Neben den bekannten und realisierten Filmen ist das Büchlein zu "Die Reise des G. Mastorna" natürlich ein besonderer Leckerbissen, da der Film niemals gedreht wurde.
Die Bücher sind mittlerweile nicht ganz leicht aufzustöbern, aber ebay, zvab oder ein gut sortiertes Antiquariat sollten da gut aushelfen können. (ein Hoch auf das Wiesbadener Antiquariat, in dem ich letztens das "Müßiggänger"-Drehbuch aufgestöbert habe).
Man liest die Bücher und hat automatisch diese phantastischen Filme vor Augen, kann sich noch intensiver mit dem Aufbau der Geschichten auseinandersetzen und sich durch Fellinis liebevoll geschriebene Treatments noch mal einen guten Gesamteindruck über Inhalt und Bedeutung des jeweiligen Filmes machen.
Warum diese großartigen Drehbüchern nicht mehr verlegt werden und man sie mühevoll von diversen Quellen zusammenkratzen muss, bleibt ein Mysterium für sich. All die Mühen machen sich aber belohnt, denn am Ende hat man etwas wirklich Besonderes im Bücherregal stehen.