27. November 2012

DIE STRÄNDE VON AGNES

Agnès Varda (Frankreich, 2008)
2008 wurde die Großmutter der Nouvelle Vague 80 Jahre alt, deswegen bekommt sie am Ende des Filmes 80 Besen geschenkt, die sie in einer freien Minute auch wirklich nachzählt. Ansonsten beschenkt sie sich aber vor allem selbst, mit diesem doch wirklich wunderbaren Selbstportrait. Varda wählt nämlich einen unkonventionellen und viel kreativeren Weg, um ihre eigene Geschichte zu erzählen. Keine gewöhnliche Dokumentation mit aneinandergereihten Fakten, sondern lieber gleich ein filmischer Essay, mosaikartig zusammengesetzt aus Jetzt und Früher, aus Filmausschnitten, Fotografien, Orten die man wieder besucht, oder die einem wichtig sind. Familienfotos in den Dünen aufgestellt, große Spiegel am Strand verteilt, die die Wogen des Meeres plötzlich in den Sand verfrachten. Ein riesiger Wal aus Stoffen, im dessen Inneren die Regisseurin Jona-ähnlich thront und zu uns spricht. Und weil sich die große Dame des französischen Films so gern und so viel zurückerinnert, läuft sie auch meistens rückwärts, wenn sie alte Orte besucht, um Vergangenes zu betonen.
Die Filmemacher-Kollegen wie Godard & Co. dürfen auch nicht fehlen und Jacques Demy war ohnehin stets als Lebenspartner und künstlerisches Pendant an ihrer Seite, den sie sogar noch kurz vor seinem Tod 1990 aus voller Nähe gefilmt hat. Man sieht die beiden auch immer gemeinsam, mal jünger mal älter, aber stets im Schaffensprozess und der Film gibt einem dann noch deutlicher das Gefühl, Vardas Leben sei ein Gesamtkunstwerk. Nur schade, dass ihre Filme bei uns so selten gezeigt werden und sie ewig im Schatten ihrer männlichen Mitstreiter steht, von denen die meisten längst nicht mehr am Leben sind.

22. November 2012

EIN SELTSAMES PAAR

Gene Saks (USA, 1968)
Habe diesen Film vor Jahren eher zufällig entdeckt, vordergründig wegen Jack Lemmon, vermutlich in einer intensiven Billy Wilder-Phase, wo man auf Grund der beiden Hauptdarsteller (an Lemmons Seite der unvergessliche Walter Matthau) unweigerlich auch über Gene Saks' Film stolpert. Dass da noch ein Bühnenstück und eine ganze TV-Serie mit dranhängt, ist mir erst seit kurzem bewusst geworden.
Jack Lemmon steckt also hier im ausgelaugten Körper von Felix Ungar, einem neurotischen Hypochonder, Ordnungsfreak und permanenten Schwarzseher. Von seiner Frau verlassen unternimmt er mehrere Selbstmordversuche, bei denen er sich blöderweise immer selbst im Wege steht und nach kläglichem Scheitern schließlich bei seinem Freund Oscar Madison (Walter Matthau) einzieht.
An dieser Stelle beginnt der Film, das Drama, die Komödie, wie man es auch nennen mag, zumindest die Geschichte zweier gegensätzlicher Charaktere, eingeschlossen in einem geräumigen Appartement. Zusätzliche Figuren sind paar Pokerfreunde und zwei englische Mädchen beim eingefädelten Rendezvous.
"Ein seltsames Paar" ist vielleicht wirklich so etwas wie der Prototyp eines Buddy-Films wie er im Buche steht und gleichzeitig erzählt er von einer Freundschaft, die auf vollkommenen Gegensätzen basiert, denn Felix und Oscar tragen einen durchgehenden Ringkampf aus; es ist eine Schlacht zwischen Ordnung und Chaos, krankhafter Selbstkontrolle und der sich-gehen-lassen-Attitüde. Alles gekonnt inszeniert und dank des Figuren-Kontrastes voller urkomischer Momente. Und die beiden sind vielleicht mehr Ehepaar als so manch ein gut beobachtetes, heterogenes Filmpärchen und demnach nicht nur ein Spiegelbild für Männerfreundschaften, sondern für diverse Mann/Frau-Beziehungen. Schließlich gipfelt der Streit in vollkommener Ruhe, weil scheinbar alles ausgesprochen wurde und man sich nur noch schweigend aus dem Weg gehen will; der eine schmollt, der andere kocht innerlich. Und wir amüsieren uns prächtig.

21. November 2012

THE SILENT ENEMY

H.P. Carver (USA, 1930)
Carvers Film war damals eine Auftragsarbeit für das "Museum of Natural History". Man merkt es dem Film auch sofort an, dass viele leuchtende Ausrufezeichen über ihm schweben, so wie diverse erhobene Finger, die den amerikanischen Ureinwohner und seine bedauernswerte Geschichte ins Zentrum rücken wollen.
Doch wer glaubt, dass es in "The Silent Enemy" um die sonst so üblichen Cowboy/Indianer-Rafeureien geht, wo die weißen Neusiedler gegen die unkultivierten "Rothäute" Kämpfe ausfechten, liegt hier eindeutig falsch. Der weiße Mann kommt im Film gar nicht vor, schon hier liegt das Ungewöhnliche des Filmes, der sich ausschließlich auf die Lebensbedienungen der Ureinwohner konzentriert. Der stille Feind ist demnach nicht ein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern gerade das fehlende Fleisch als Nahrung, der Hunger, der die kanadischen Ojibwe-Indianer (alles Originale, die sich selbst verkörpern) in einem harten Winter auf die Probe stellt. Der Häuptling entscheidet sich, den ganzen Krempel zu packen und in den Norden zu ziehen, wo das Wild noch vorhanden sein soll. Dies stellt sich jedoch als großer Irrtum heraus. Die Wölfe fletschen die Zähne, die Raubtiere stehlen oder verpesten die letzten Vorräte, man versucht also auch schon die Götter um Hilfe zu rufen, doch der Hungerkampf tobt unentwegt, lässt sogar die Menschen aufeinander los.
Ein ganz harter Existenzkampf steht dem Zuschauer bevor, halb Spielfilm, halb Dokumentation, man kann es auch als das Leben selbst bezeichnen. Die Bilder sind phantastisch, die neue musikalische Untermalung von Siegfried Friedrich fast noch besser und alles zusammen sorgt für ein außergewöhnliches Sehvergnügen, denn wie oft bekommt man schon einen (Stumm)Film zu einer solchen Thematik zu sehen.

20. November 2012

LA LUNA

Bernardo Bertolucci (Italien, 1979)
Der Vergleich mag kläglich sein, aber wozu immer unberührtes Frischfleisch anpacken, wenn man aus der Tiefkühltruhe auch mal nach einem gut konservierten Leckerbissen greifen kann, der nach dem Auftauen an Intensität nichts verliert. "La Luna" war letztens so ein Film, eine erneute Sichtung war schon länger hinfällig, man hat bloß immer Angst, dass sich ein Film irgendwann abnutzt. Es ist das Problem der verloren gegangenen Magie, die einfach im Nichts verpulvert. Es soll ja schließlich weiterhin ein Film bleiben, der einem viel bedeutet, von dem man mit Vorsicht sogar behaupten kann, man würde ihn lieben. Der richtige Zeitpunkt war nun da, und es ist immer noch alles in bester Ordnung.
Bertolucci hat davor seinen Opus magnum "1900" abgedreht; alles was als nächstes käme, würde bloß in dessen Schatten stehen, vielleicht nicht mal das, sondern auf wackeligen Beinen in der Ecke schwanken.
Doch "La Luna" ist so viel anders, dass man ihn gar nicht zu vergleichen braucht. Zuallererst steht man aber wieder von der gewaltigen Aufgabe, den Inhalt zusammenfassen zu müssen, damit der Leser nicht ziellos herumirrt.Caterina (Jill Clayburgh) ist eine berühmte Opernsängerin aus New York, die nach dem Tod ihres Mannes mit ihrem 15-jährigen Sohn Joe (Matthew Barry) ein neues Leben in Rom beginnt. Der Konflikt schleicht sich rasch heran, denn Caterina blickt stets ihrem Erfolg entgegen, hat nur die Opernbühnen dieser Welt vor Augen und weniger ihren Sohn, der sich einsam fühlt und großteils alleine die Ewige Stadt erkundet. Er rutsch in einen verderblichen Rauschgiftkonsum ab, sein bester Freund ist gleichzeitig sein Drogenhändler und die Mutter merkt plötzlich, dass ihr Sohn ein Unbekannter für sie ist. Sie hört auf zu singen, möchte es auch nie mehr tun und lässt sich lieber auf ihren Sohn ein, doch leider auf falschem Wege, denn was sich anbahnt ist eine inzestuöse Mutter-Sohn-Beziehung. In dem Augenblick, als sie merkt, ihrem Sohn aus der Drogensucht helfen zu müssen, übersättigt sie ihn mit ihrer Zuneigung, wie es bereits in den allerersten Filmminuten angedeutet wird, wo Joe als Baby mit Honig überfüttert wird und sich schließlich an der süßlich triefenden Masse verschluckt. Ergänzt wird das durch die Szene mit dem Wollknäulen, in das sich der kleine Bub verfängt und es wie eine Nabelschnur von seiner Mutter wegzieht während er weinend zu seiner Großmutter läuft. Symbole über Symbole.
Bertolucci sorgte damals mit der Inzest-Thematik für einen Skandal, bewies aber erneut, dass er eine Geschichte auch ohne faschistisch-politische Themen erzählen kann und das sogar mit wenigen Worten, weil auf die Bilder immer Verlass ist, die von subtil bis gigantisch alles abdecken.
Vielleicht folgt er hier sogar noch viel deutlicher seinem Herzen, und es ist ja kaum noch der Film eines Regisseurs, sondern wirklich der eines Künstlers. Was den Film zu einem solchen macht, ist nicht bloß die Künstlerwelt, in der die Geschichte angesiedelt ist, sondern die plastisch ausgearbeitete Eigenart der Figuren. Ob Operndiva oder Kneipenbesitzer, bei Bertolucci ist jeder ein Kreativer oder ein Verrückter und benimmt sich oft entgegengesetzt der Handlung bzw. der jeweiligen Situation und provoziert damit sein Umfeld aber vor allem seinen Zuschauer. Bei der Beerdigung seines Stiefvaters tritt Joe einer trauernden Frau auf den Fuß, damit sie nicht mehr weint. Und in Joe brodelt selbst das Schöpferische und Kreative, wenn er sich etwa an das Klavier setzt oder später das Schlagzeugsolo auf dem Essensbesteck hinlegt, um die Aufmerksamkeit seiner Mutter zu erlangen. Man wundert und fragt sich, warum er überhaupt so viel Ungewöhnliches tut, aber er ist ja auch ein gelangweilter Abkömmling einer Mutter, die sich mit Leib und Seele dem Kreativen verschrieben hat, der sich dennoch querstellt, um beachtet zu werden, denn er ist zudem ein amerikanischer Teenager, der plötzlich in Italien aufwächst.
Trotz seines melancholisches Grundtons, hat der Film aber dennoch heitere Akzente. Ein junger Roberto Benigni sorgt dafür als clownhafter Handwerker, der in einem unpassenden Augenblick eine Gardine anbringen will, während Mutter und Sohn ein ernstes Gespräch führen wollen.
Der Film schwappt irgendwann zu einem Art Road-Movie über, weil die Mutter in ihrem übertriebenen Eifer dem Sohn die Orte ihrer Jugend zeigen will. Joes leiblicher Vater ist Italiener, wir Zuschauer erahnen das seit Anbeginn dieser Geschichte, doch für Joe ist es ein Schock, der die Liebe/Hass-Beziehung zwischen Mutter und Sohn in neue Bahnen lenkt.
Bertolucci, Morricone, Verdi, Italien... der Film ist selbst eine Oper, denn er lehnt sich schließlich auch an Verdis Werk. Und der ewige Mond hängt draußen, oben in der Ferne, immer wieder zeigt er uns das eine Gesicht und verbirgt sein anderes Antlitz auf der für uns nicht sichtbaren Seite.

14. November 2012

CHINESISCHES ROULETTE

Rainer Werner Fassbinder (Deutschland, 1976)
Beinahe vergessen, dass sich dieser Film zwischendurch auch noch eingereiht hat, oder doch eher verdrängt, denn noch nie habe ich mir so sehnlich gewünscht, dass ein Fassbinder-Film zu Ende gehen würde.
Dabei ist der Inhalt mehr als verlockend: Ein Geschäftsmann belügt seine Frau mit einer angeblichen Geschäftsreise und fährt mit seiner Geliebten für ein Wochenende auf sein entlegenes Landhaus, wo er bei Ankunft gerade diese ebenfalls mit ihrem eigenen Geliebten überrascht. Der ganze Schlamassel passiert jedoch nicht zufällig, sondern wird hinterlistig eingefädelt. Den Höhepunkt des Filmes bildet schließlich das namensgebende chinesische Roulette, bei dem sich alle Charaktere beim gemütlichen Geplauder gegenseitig entlarven wollen. Die Wahrheit soll endlich ans Tageslicht kommen, jeder soll auftischen, was er vom anderen denkt, unterdrückte Gefühle kommen an die Oberfläche und zum Großteil natürlich keine guten, sonst wäre es ja kein Film.
Michael Ballhaus, das alte Spielkind: seine Kamera ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt als mit den Charakteren, schlängelt sich an den unmöglichsten Stellen hindurch, doch leider oft an der Geschichte vorbei. Irgendwann langweilt man sich fast schon, trotz Anna Karina (wohl eine Leihgabe von Godard), trotz Margit Carstensen, Ulli Lommel und der restlichen Fassbinder-Horde.
Warum ist das bloß so, fragt man sich. Vielleicht stehen sich hier zwei entgegengesetzte Phänomene im Wege, nämlich die angedachte, kammerspielartige Nähe zu den Figuren und auf der anderen Seite Fassbinders nüchtern-gekünstelte Art. Wenn die beiden Paare in der Villa aufeinanderprallen, müsste das eigentlich einen schockierenden Wendepunkt auslösen, was bleibt ist jedoch der Eindruck eines theatralischen, sich selbst parodierenden Momentes. Was ja wiederum Fassbinders Stil war. Aber vielleicht ist dieser manchmal zu allgegenwärtig.

5. November 2012

DER PIANIST

Roman Polanski (Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Polen, 2002)
Zu diesem Film haben sich wohl schon alle den Mund fusselig geredet und ihn akzeptiert oder akzeptieren müssen, trotz der teilweise übertriebenen Portraitierung des Protagonisten als beinahe unzerstörbaren Superhelden, der irgendwann nur noch alleine durch das zerbombte Warschau umherirrt. Thomas Kretschmann als Wilm Hosenfeld ist dann der aus der Schablone ausgeschnittene gute Nazi, (oder eben kein Nazi mehr, sondern ein guter Deutscher), aber warum auch nicht; wenigstens darf man es auch mal von der Seite betrachten.
Objektiv gesehen kann der Film ja auch nicht schlecht sein; er hat das Privileg der Holocaust-Thematik, die ihn zumindest niemals unwichtig erscheinen lassen kann. Es ist ja auch Polanskis persönlichster Film, zwar ohne die sonstigen, hinterlistig-teuflischen Einfälle, für die man ihn sonst so sehr schätzt, aber auch nicht schlechter; er nähert sich bloß einem sehr delikaten Thema.
Was der gebürtige Pole und Warschauer Ghetto-Flüchtling hier aber erneut so gekonnt meistert, ist seine ewige Thematik des Eingeschlossenen Protagonisten innerhalb seiner eigenen vier Wände. Eine Figur wie Szpilman eignet sich dafür noch viel besser, denn er liegt wirklich in so manch einem Unterschlupf wie ein Hering in der Dose, während draußen die Bomben fallen und jeder Jude geräuschlos in seinem Versteck hausen muss. Der Unterschied ist vielleicht, dass Polanski in anderen Filmen Einzelschicksale einkerkerte, hier aber steht der Pianist stellvertretend für ein ganzes Volk; er ist bloß eben Szpilman und nicht irgendjemand. Ein populärer Pianist mitten in den Wirrungen des Krieges unterstützt umso mehr denn Sinn und Unsinn dieser Zeit, wo das Individuum oftmals in der Uniform oder im Sträflingsanzug erstickt wurde. Um so herzzerreißender, wenn er dann schließlich für den Wehrmachtsoffizier spielen soll und die Musik über die Kriegstrümmer davongetragen wird, als einzig überlebendes und nicht tot zu kriegendes Phänomen.
Schöner Nebeneffekt beim erneuten Sehen: Katarzyna Figura erkenne ich tatsächlich zum ersten Mal, als brüllende Nachbarsfurie (und offensichtliche Nazi-Sympathisantin), die den verängstigten Szpilman in seinem Versteck ertappt hat. Solch ein kleiner Cameo-Auftritt ist fast schon wieder amüsant.